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Corona und das Totenbuch der Tibeter

Geschrieben im Frühjahr 2020:

Corona als Übergangskrise zu einem wirklichen Wandel

Wir befinden uns mitten in einem Geschehen, das unsere Gewissheiten, Sicherheiten und unser Leben so sehr herausfordert und bedroht, wie wir es seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr erfahren haben.

Ich finde es ist wichtig, sich zu erinnern, dass die Welt auch schon vor dieser Pandemie im Zustand der Katastrophe war. Nur, dass wir in unserer Sicherheitsblase in der „1. Welt“ davon noch nicht so viel mitbekommen haben. Das Klima der Erde verändert sich mit katastrophalen Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen. Es sterben seit Jahrzehnten zunehmend mehr Tierarten und Pflanzenarten aus. Es gibt Gegenden in der Welt, in der Menschen in extremer Armut, Unsicherheit, Terror, Krieg und Vertreibung leben. Diese Menschen haben das Sicherheitsgefühl, das unser Leben in den letzten Jahrzehnten bestimmt hat, niemals erfahren.

Wir wissen, dass wir in einem Zustand der Dysbalance leben, und wir wissen, dass die Weise, wie wir wirtschaften und leben ganze Ökosysteme auf unserem Planeten zunehmend zerstören wird. Wir wissen, dass es keine wirkliche Lösung ist, wenn wir jetzt einfach immer mehr Elektroautos und Solarpanels bauen, also einfach fleißig weiterproduzieren und weiter ungebremst Ressourcen der Erde verbrauchen.

Und: Wir merken, dass wir es trotz dieses Wissens nicht schaffen, freiwillig den fundamentalen und radikalen Wandel herbeizuführen, den es bräuchte, um wieder mehr Balance in diese Welt zu bringen.

Wandel aber geschieht immer. Wandel und Veränderung ist die Natur des Lebens.

Menschen neigen individuell und kollektiv dazu, sich gegen den Wandel zu sperren. Wir wollen das einmal Erlangte bewahren solange es geht. Dieses Festhalten am Status Quo geschieht paradoxerweise auch in dann, wenn die Situation eigentlich schrecklich ist. Das kann man besonders deutlich auf der intrapsychischen Ebene beobachten. Wir verharren in ungesunden Mustern und erleben das Gefühl, dass wir in irgendetwas verfangen sind, aus dem wir einfach nicht herauskommen können.

Das alles ist sehr menschlich.

Desto mehr wir aber den natürlichen und notwendigen Wandel vermeiden und in einer Situation der Dysbalance verharren, desto heftiger wird es dann, wenn der Wandel sich dann eben doch ereignet.

Dann kommt eine Krise.

Es ist leider oft so, dass wir uns freiwillig nicht wirklich verändern. Es braucht dann die Krise, damit  Wandel stattfinden kann.

Erst durch eine Krise, die uns in den Zustand von Kontrollverlust führt, werden unsere alten Strukturen so erschüttert, dass wirklich etwas Neues entstehen kann. Es geschieht dann etwas, dass wir niemals freiwillig gewählt hätten. Die radikalste Form einer solchen Krise, die unsere Gewohnheiten und Strukturen bis ins Mark erschüttert ist der Tod. Aber der Tod kann viele Gesichter haben. Auch das Ende einer langen Partnerschaft kann ein Tod sein. Der momentane teilweise Shutdown des Weltwirtschaftssystems, das zumindest einem Teil der Menschen viel Wohlstand und Sicherheit gebracht hat, ist beängstigend, und wir haben keine Ahnung welche Konsequenzen das nach sich zieht.

Beim Tod ist es so: Etwas, von dem wir gedacht haben wir bräuchten es unbedingt, hört auf, wird uns genommen, wir wissen nicht ob etwas bleibt und wir haben keine Chance den alten Zustand wieder herzustellen. Es gibt keinen Weg zurück.

Im Totenbuch der Tibeter gibt es das Konzept von Bardo. Das Bardo ist der Zustand zwischen zwei Inkarnationen. Wir können „Inkarnation“ auch als verhärtete Struktur verstehen, an der wir festhalten. Wir sperren uns gegen das Prinzip des Wandels. Das geht eine Weile gut und dann kommt er doch, der „Tod“, die radikale ungewollte Veränderung. Nach dem Tod kommt der Bardozustand und dann kommt eine neue Inkarnation, also einen neue Form. Im Tod lösen sich die Strukturen auf und das ist häufig extrem leidvoll. Im Bardo sind wir in der Ungewissheit, im Zwischenzustand. Dies ist ein Zustand voller Angst, aber……… und jetzt kommt der wichtige Punkt: es ist auch ein Zustand mit einem extremen Veränderungs- und Erkenntnispotential.

Die Art und Weise wie wir das Bardo durchleben bestimmt die Qualität der nächsten Inkarnation.

Im Bardo liegt also eine große Chance für einen sinnvollen Wandel. Weil die alten Gewohnheiten und Tendenzen erst einmal gestorben sind, haben wir nun die Möglichkeit, tief zu schauen und zu verstehen.

Ich habe den Eindruck, wir rutschen jetzt kollektiv in einen solchen Zustand. Das alte Gewohnte wird uns zwangsweise und mit Schrecken genommen, und wir müssen in einem Zwischenzustand verharren, von dem wir nicht wissen wie lange er dauert, nicht wissen wohin er uns führt und wie wir wieder herauskommen. Deswegen besteht aus der Perspektive des tibetischen Totenbuchs die Herausforderung jetzt darin, diesen Zustand wirklich zu nutzen, um mit dem Wesentlichen in uns in Kontakt zu kommen. Dann kann die neue Inkarnation, also die neue Normalität eine bessere und menschlichere werden. Auch wenn es eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, dass die Menschen, sobald es geht, alle „Wirtschaftsmaschinen“ so schnell wie möglich in gewohnter Weise wieder hochfahren werden; so besteht doch in genau dieser Situationen auch die Möglichkeit, aufzuwachen.

An dieser Möglichkeit möchte ich mich ausrichten.

Wir sehen es schon jetzt, dass die Krise große Wellen der Solidarität auf der Welt weckt. Ein CDU Politiker macht den Vorschlag, dass wir, solange wir es noch können, jetzt eigentlich Intensivpatienten aus Italien aufnehmen sollten (leider haben wir es nicht getan). Wenn ich im Moment durch die Straßen gehe, dann fühle ich eine tiefe Solidarität unter den Menschen. Sie achten mehr aufeinander, reden miteinander und schauen sich an.

Aber auch das Gegenteil geschieht: Menschen schotten sich ab, kaufen Waffen und denken nur an ihre eigenen Interessen und Vorteile (Mr. Trump versucht eine Firma zu kaufen, um Impfstoffe exklusiv für die USA herstellen zu lassen).

So eine Krise hat einen Brennglass- oder Turboeffekt. Daher ist es entscheidend wie wir jetzt damit umgehen und welches Bewusstsein wir verstärken.

Es braucht jetzt von uns eine klare Ausrichtung. Wir alle können daran mitwirken, dass Kräfte von Einsicht und Mitgefühl wachsen. Dann kann uns diese Krise vielleicht genau den Schwung geben, der uns hilft, in eine neue Normalität (Inkarnation) zu kommen, in der wir als Menschen im Einklang mit der Erde und den Tieren und in Frieden miteinander leben können.

Ich weiß, das klingt sehr optimistisch, aber was bleibt uns?

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